Gesundheit kennt keine Kleidergröße!
- Andrea Zarfl
- 6. Feb.
- 4 Min. Lesezeit

Hast du dir beim Anblick einer mehrgewichtigen Person schon einmal gedacht: „Naja, selber schuld … wundert mich nicht, dass er*sie so viel wiegt. Wird ständig nur am Essen sein und sich nicht bewegen. Abzunehmen und nicht so faul zu sein wäre gut.“
Oder bist du selbst mehrgewichtig und dich plagen Gedanken wie: „Warum können alle abnehmen nur ich nicht? Sogar mein*e Mediziner*in und mein Freundeskreis raten mir ständig Gewicht zu verlieren“.
fat shaming
Oft werden derartige Gedanken jedoch nicht für sich behalten, sondern der betroffenen Person direkt ins Gesicht gesagt. Wenn dies der Fall ist, sprechen wir vom sogenannten fat shaming. Es beschreibt die offene Beleidigung (oft auch als vermeintlich "guter" Ratschlag getarnt) bzw. das Thematisieren des Gewichts betroffener Personen. Leider sind sich die meisten Menschen dabei nicht bewusst, welche zahlreichen negativen und vor allem gesundheitlichen Folgen eine derartige Handlung mit sich führen kann.
„Wir leben in einer fettphobischen Welt, gekennzeichnet von aktivem, gesellschaftlich sanktioniertem Dickenhass.“ – Elisabeth Lechner
Gewichtsstigmatisierung und ihre negativen Folgen
Die Stigmatisierung des Körpergewichts nimmt erheblichen Einfluss auf psycho-sozialer Ebene. Das Risiko betroffener Personen für psychische Erkrankungen (z.B. Depression, Essstörungen, Angstzustände) steigt aufgrund sozialer Ausgrenzung und vermindertem Selbstwertgefühl stark an.
Die Auswirkungen von fat shaming beeinflussen jedoch nicht nur das psychische Wohlbefinden, sondern spiegeln sich auch im Gesundheitsverhalten wider. Die Motivation, sich sportlich zu betätigen verringert sich (es gibt keinen sicheren Ort dafür), das Ernährungsverhalten verschlechtert sich zunehmend (Anstieg von Diäthalten, emotionsregulierendes Essen, Heißhungerattacken, unkontrollierte Essanfälle) und Vorsorgeuntersuchungen bzw. anderweitige medizinische Konsultationen werden lediglich zaghaft in Anspruch genommen, da Mediziner*innen/Therapeut*innen in erster Linie das Gewicht als Ursache nennen und dem eigentlichen Grund der Krankheit nicht mehr weiter auf den Grund gehen.
Nicht zu unterschätzen sind zudem die physischen Reaktionen im Körper Betroffener. Durch dieses Stigma entsteht chronischer Stress, wodurch das Hormon Cortison ansteigt und eine Gewichtszunahme lediglich verstärkt. Ein Teufelskreis entsteht, aus dem die Flucht immer schwieriger erscheint. Gewichtsdiskriminierung erhöht somit die Wahrscheinlichkeit mehrgewichtig zu werden bzw. zu bleiben.
Diskriminierende Aussagen, wie einleitend beschriebene, sind also weder zielführend noch nützlich, sondern ziehen gravierende Folgen auf psychischer und physischer Ebene mit sich.
„Das Einzige, was irgendjemand mit Gewissheit feststellen kann, wenn er*sie eine dicke Person ansieht, ist der Grad seiner*ihrer eigenen Stereotype und Vorurteile gegenüber dicken Menschen.“ – Marilyn Wann, Fat Activistin
Übergewicht ist ein Symptom, KEINE Ursache
Wer schlank ist, ist erfolgreich, willensstark und gesund. Dicke Menschen hingegen haben keine Willenskraft bzw. leben ungesund und können demnach auch nicht erfolgreich sein. Das ist jedenfalls das gängige Bild unserer Gesellschaft.
Zählen dünne Menschen Kalorien, folgen selbstauferlegten restriktiven Ernährungsregeln und betreiben exzessiv Sport, rät man ihnen sich in Therapie zu begeben (gestörtes Essverhalten/Essstörung). Bei dicken Menschen wird ein derartiges Verhalten jedoch mit Komplimenten und gutem Zuspruch weiterzumachen bestätigt. Ist das nicht grotesk?! Dadurch wird mehrgewichtigen Menschen das Gefühl vermittelt, ständig zu versagen.
Von Versagen oder Willensschwäche kann keinesfalls die Rede sein, werden die zahlreichen Faktoren berücksichtigt, welche sich auf das Körpergewicht eines Menschen auswirken:
Ernährung / Bewegung
Alter
Geschlecht
Genetik
Ethnizität
Gewichtsstigmatisierung
Diäten / Weight Cycling
sozioökonomischer Status
Wohnort
Schlaf
Alkohol, Zigaretten
Umfeld
Familie, Kultur
Essstörungen
Stress
Medikamente
Krankheiten
pränatale Faktoren
Stoffwechsel
Mikrobiom
Einfach nur zu raten: Iss weniger und mach mehr Sport, um das „Symptom“ Übergewicht zu adressieren, ist nicht zielführend. Stattdessen bedarf es an richtiger Stelle Unterstützung: Gewichtsneutrale, vorurteilsbewuste (Ernährungs-)Therapie um ein gesundheitsorientiertes Verhalten - unabhängig vom Gewicht - zu fördern!
Unsere Besessenheit vom Körpergewicht
Wir alle werden im Laufe unseres Lebens auf Körpergewicht und Aussehen sozialisiert. Unsere eigenen Normvorstellungen unseren Körper betreffend, werden vom gesellschaftlichen Bild der Schönheitsideale geprägt. Die Diätindustrie schürt dieses Feuer zunehmend, indem sie uns mit den Normvorstellungen lockt, die wir mit ihrer Hilfe (Diätshakes, Detoxkuren, Abnehmpillen, Adipositasspritzen, Diät XY, …) erreichen sollen. So weit kommt es allerdings in den seltensten Fällen (95% aller Diäten scheitern, erneute Gewichtszunahmen sind die Folge), denn unser Körper lässt sich auf Dauer nicht aushungern. Heißhungerattacken, Binge Eating (Essanfälle), emotionregulierendes Essen und Essstörungen sind mögliche Folgen. Der Diätindustrie ist das herzlich egal. Sie verdient „gutes“ Geld an uns und muss nichts weiter tun, als zu präsentieren, wie wir aussehen wollen. Im Jahr 2023 verdiente die Diätindustrie €233 Milliarden an uns.
Gesundheitsorientiertes Verhalten - unabhängig vom Gewicht
Wenn wir anstelle der ständigen Gewichtsmanipulation versuchen MIT unserem Körper und seinen Bedürfnissen zu arbeiten und nicht mehr GEGEN ihn, kann schrittweise ein gesundheitsorientiertes Verhalten etabliert werden. Dieses führt langfristig zu psychischen und körperlichen Wohlbefinden und der Körper findet schließlich sein natürliches Sollgewicht von selbst. Auch bekannt als Health At Every Size® (HAES®).
Die Säulen von HAES® sind:
Respekt: Annahme der Vielfalt von Körperformen und -größen sowie Akzeptanz der Unterschiede von Herkunft, Alter, Geschlecht, Religion, körperlicher Einschränkungen usw.
Kritisches Bewusstsein: Glaubenssätze und Wertvorstellungen hinterfragen und mit kulturellen Idealvorstellungen vergleichen.
Mitfühlende Selbstfürsorge: Freude an körperlicher Aktivität etablieren und eine genussvolle, ausgewogene Ernährung ohne Schuldgefühle finden.
Das Körpergewicht ist KEIN Indikator für Gesundheit, ein gesundheitsförderndes Verhalten allerdings sehr wohl. Regelmäßige sportliche Bewegungen, eine ausgewogene Ernährung, mäßiger Konsum von Alkohol sowie Nichtrauchen, wirken sich in einer Studie positiv auf die Gesundheit mehrgewichtiger Proband*innen aus, ganz unabhängig von ihrem Körpergewicht.
Literaturverweis
Adebahr & Lehmann, 2017
Lechner, 2021
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