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Bedürfnisorientierte Ernährung: Keine Regeln. Sondern Orientierung!

Aktualisiert: 7. Feb.



Beim Begriff „Ernährung“ denken viele Menschen zuerst an die Versorgung mit Nährstoffen, Vitaminen und Kalorien.


Doch Ernährung ist weit mehr als eine rein physiologische Notwendigkeit.

Sie ist ein kulturelles Thema: Traditionelle Speisen, familiäre Rezepte und Essgewohnheiten prägen unser Verständnis davon, was und wie wir essen. Ernährung ist zudem mit gesellschaftlichen Trends und Werten verbunden – sei es die Entscheidung für eine vegetarische oder vegane Lebensweise oder die wachsende Bedeutung von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelauswahl (Barlösius, 2019).


Aber vor allem weckt Ernährung auch emotionale Assoziationen – von Genuss und Freude bis hin zu möglichen Schuldgefühlen. Diese Schuldgefühle können dazu führen, dass Essen als etwas Problematisches wahrgenommen wird, anstatt es als Quelle der Zufriedenheit und des Wohlbefindens zu genießen (Tylka et al., 2014).



Muss Ernährung wirklich mit Schuldgefühlen verbunden sein?

Viele Menschen fühlen sich unter Druck gesetzt, sich „perfekt“ oder „gesund“ zu ernähren – doch allein die Definitionen dieser Begriffe sind hochgradig subjektiv. Was bedeutet gesund? Ist eine nachhaltige Ernährung automatisch die beste für jede Person?


Fakt ist: Ernährung ist individuell. Was für dich passt, muss nicht für dein Kind oder deine Familie passend sein. Und was für dein Kind passt, gilt nicht automatisch für ein anderes Kind.


Auch Kinder haben andere Ernährungsbedürfnisse als Erwachsene. Ihr Essverhalten wird von biologischen Entwicklungsphasen, Sinneswahrnehmung und emotionaler Regulation beeinflusst (Fildes et al., 2015). Während Erwachsene oft nach gesellschaftlichen Normen essen, folgen Kinder natürlicherweise ihren inneren Signalen – wenn man sie lässt.



Bedürfnisorientierte Ernährung: Ein ganzheitlicher Blick aufs Essen

Bedürfnisorientierte Ernährung bedeutet, verschiedene Faktoren zu berücksichtigen, die das Essverhalten beeinflussen – von der Körperwahrnehmung über emotionale Bedürfnisse bis hin zu sozialen und kulturellen Aspekten. Dabei spielen folgende Prinzipien eine zentrale Rolle:


1. Achtsamkeit und Körperwahrnehmung

Ein zentrales Element der bedürfnisorientierten Ernährung ist das Erkennen und Respektieren von Hunger- und Sättigungssignalen. Studien zeigen, dass achtsames Essen zu einer besseren Selbstregulation des Essverhaltens führt und das Risiko für emotionales Essen und Essanfälle reduzieren kann (Van Dyke & Drinkwater, 2014).

Kinder haben noch eine sehr feine Wahrnehmung für ihre Körpersignale. Sie essen oft intuitiver als Erwachsene – bis gesellschaftliche Einflüsse, wie Regeln („Iss deinen Teller auf!“) oder moralische Bewertungen von Lebensmitteln, ihre Selbstregulation beeinflussen (Russell & Worsley, 2013).


2. Flexibilität statt Restriktion

Statt strengen Ernährungsvorgaben geht es darum, flexibel mit Lebensmitteln umzugehen. Ein übermäßiger Fokus auf Kontrolle und Verbote kann zu negativen psychologischen Effekten führen, etwa zu einem erhöhten Risiko für Essstörungen oder einem gestörten Essverhalten (Tribole & Resch, 2020).

Bei Kindern ist Zwang kontraproduktiv: Studien zeigen, dass restriktives Ernährungsverhalten von Eltern oft dazu führt, dass Kinder bestimmte Lebensmittel später umso mehr begehren oder ablehnen (Rollins et al., 2014).


3. Individuelle Bedürfnisse berücksichtigen

Jeder Mensch hat andere Ernährungsbedürfnisse – abhängig von Alter, Aktivitätsniveau, gesundheitlicher Situation und kulturellem Hintergrund. Studien zur personalisierten Ernährung zeigen, dass individuelle Anpassungen langfristig erfolgreicher sind als allgemeine Ernährungsempfehlungen (Ordovas et al., 2018).

Kinder brauchen in den ersten Lebensjahren eine hohe Energiedichte und entwickeln oft Vorlieben für bestimmte Lebensmittel, da ihre sensorische Verarbeitung von Geschmäckern noch reift (Nicklaus, 2016). Eltern können Kinder begleiten, ohne strikte Regeln vorzugeben – mit einem ausgewogenen Angebot und ohne Druck.


4. Genuss und Zufriedenheit fördern

Essen soll Freude bereiten. Genuss wird oft vernachlässigt, wenn Essen ausschließlich nach Nährwerten beurteilt wird. Die intuitive Ernährung zeigt, dass eine entspannte Haltung gegenüber Lebensmitteln langfristig zu einer besseren Ernährungsweise beiträgt (Tylka & Kroon Van Diest, 2013).

Kinder erleben Essen als sinnliches und spielerisches Erlebnis. Positive Erfahrungen am Familientisch stärken langfristig die Freude an vielfältigen Lebensmitteln (Fildes et al., 2015).


5. Emotionale und soziale Aspekte berücksichtigen

Essen ist mehr als bloße Nahrungsaufnahme – es hat eine starke soziale und emotionale Komponente. Menschen essen oft aus emotionalen Gründen, sei es Trost, Freude oder Gemeinschaft. Bedürfnisorientierte Ernährung erlaubt diesen Aspekten Raum, ohne sie zu stigmatisieren (Koch et al., 2021).

Gemeinsame Mahlzeiten bieten Kindern eine wertvolle Gelegenheit, soziale Fähigkeiten und ein positives Essverhalten zu entwickeln (Musher-Eizenman & Kiefner, 2013).


6. Nachhaltigkeit und Verantwortung

Bedürfnisorientierte Ernährung kann auch Aspekte wie Umweltbewusstsein, Nachhaltigkeit und ethische Überlegungen (z. B. vegetarische oder vegane Ernährung) integrieren, sofern sie dem individuellen Bedürfnis entsprechen – ohne dieselben Werte von anderen Menschen zu erwarten.

Nachhaltige Ernährungsweisen können Kindern früh vermittelt werden, sollten jedoch nicht auf Kosten ihrer natürlichen Essentwicklung gehen. Ein zu starker Fokus auf „gesunde“ oder „nachhaltige“ Ernährung kann unbewusst Druck erzeugen und zu einem angespannten Essverhalten führen (Willett et al., 2019).



Die Vorteile der bedürfnisorientierten Ernährung

Die Forschung zeigt, dass eine flexible und achtsame Ernährungsweise viele Vorteile hat:

  • Sie fördert eine gesunde Beziehung zum Essen (Tylka et al., 2014).

  • Sie reduziert den Diätdruck und kann Essstörungen vorbeugen (Tribole & Resch, 2020).

  • Sie unterstützt eine positive Vorbildfunktion für Kinder (Koch et al., 2021).

  • Sie führt langfristig zu mehr Energie und Lebensfreude durch ein entspanntes Essverhalten.


Die Prinzipien der intuitiven Ernährung harmonieren perfekt mit den Ansätzen der Bedürfnisorientierten Ernährung. Bedürfnisorientierte Ernährung ist kein kurzfristiger Trend, sondern ein nachhaltiger Ansatz, um ein langfristig positives Verhältnis zum Essen zu entwickeln.



Literaturverweis

  • Barlösius, E. (2019). Soziologie der Ernährung. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche. Springer VS.

  • Fildes, A., van Jaarsveld, C. H. M., Wardle, J., & Cooke, L. (2015). Parent-administered exposure to increase children’s vegetable acceptance: a randomized controlled trial. Journal of the Academy of Nutrition and Dietetics, 115(7), 1106–1113. https://doi.org/10.1016/j.jand.2015.03.013

  • Koch, J., Heuer, T., & Krems, C. (2021). Ernährungsverhalten und soziale Determinanten. Bundeszentrum für Ernährung.

  • Musher-Eizenman, D. R., & Kiefner, A. (2013). Food parenting: A selective review of current measurement and an empirical examination to inform future measurement. Childhood Obesity, 9(S1), S32–S39. https://doi.org/10.1089/chi.2013.0032

  • Nicklaus, S. (2016). The role of food experiences during early childhood in food pleasure learning. Appetite, 104, 3–9. https://doi.org/10.1016/j.appet.2015.08.022

  • Ordovas, J. M., Ferguson, L. R., Tai, E. S., & Mathers, J. C. (2018). Personalised nutrition and health. BMJ, 361, k2173. https://doi.org/10.1136/bmj.k2173

  • Rollins, B. Y., Loken, E., Savage, J. S., & Birch, L. L. (2014). Effects of restriction on children’s intake differ by child temperament, food reinforcement, and parent’s chronic use of restriction. Appetite, 73, 31–39. https://doi.org/10.1016/j.appet.2013.10.005

  • Russell, C. G., & Worsley, A. (2013). Why don’t they like that? And can I do anything about it? The nature and correlates of parents’ attributions and self‐efficacy beliefs about preschool children’s food refusals. Appetite, 66, 34–43. https://doi.org/10.1016/j.appet.2013.03.007

  • Tribole, E., & Resch, E. (2020). Intuitive Eating: A Revolutionary Anti-Diet Approach. St. Martin’s Essentials.

  • Tylka, T. L., & Kroon Van Diest, A. M. (2013). The Intuitive Eating Scale–2: Item refinement and psychometric evaluation with college women and men. Journal of Counseling Psychology, 60(1), 137–153. https://doi.org/10.1037/a0030893

  • Tylka, T. L., Annunziato, R. A., Burgard, D., Danielsdottir, S., Shuman, E., Davis, C., & Calogero, R. M. (2014). The weight-inclusive versus weight-normative approach to health: Evaluating the evidence for prioritizing well-being over weight loss. Journal of Obesity, 2014, 1–18. https://doi.org/10.1155/2014/983495

  • Van Dyke, N., & Drinkwater, E. J. (2014). Relationships between intuitive eating and health indicators. Journal of Nutrition Education and Behavior, 46(3), 226–232. https://doi.org/10.1016/j.jneb.2014.01.001

  • Willett, W., Rockström, J., Loken, B., Springmann, M., Lang, T., Vermeulen, S., & Murray, C. J. L. (2019). Food in the Anthropocene: the EAT–Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems. The Lancet, 393(10170), 447–492. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(18)31788-4

 
 
 

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