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Bedürfnisorientierte Ernährung: Keine Regeln. Sondern Orientierung!

  • Autorenbild: Ingrid Pfaffinger
    Ingrid Pfaffinger
  • 6. Feb.
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 30. Mai



Beim Begriff „Ernährung“ denken viele Menschen zuerst an die Versorgung mit Nährstoffen, Vitaminen und Kalorien.


Doch Ernährung ist weit mehr als eine rein physiologische Notwendigkeit.

Sie ist ein kulturelles Thema: Traditionelle Speisen, familiäre Rezepte und Essgewohnheiten prägen unser Verständnis davon, was und wie wir essen. Ernährung ist zudem mit gesellschaftlichen Trends und Werten verbunden – sei es die Entscheidung für eine vegetarische oder vegane Lebensweise oder die wachsende Bedeutung von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelauswahl (Barlösius, 2019).


Aber vor allem weckt Ernährung auch emotionale Assoziationen – von Genuss und Freude bis hin zu möglichen Schuldgefühlen.


Diese Schuldgefühle können dazu führen, dass Essen als etwas Problematisches wahrgenommen wird, anstatt es als Quelle der Zufriedenheit und des Wohlbefindens zu genießen (Tylka et al., 2014).



Muss Ernährung wirklich mit Schuldgefühlen verbunden sein?


Viele Menschen fühlen sich unter Druck gesetzt, sich „perfekt“ oder „gesund“ zu ernähren – doch allein die Definitionen dieser Begriffe sind hochgradig subjektiv. Was bedeutet gesund? Ist eine nachhaltige Ernährung automatisch die beste für jede Person?


Fakt ist: Ernährung ist individuell. Was für dich passt, muss nicht für dein Kind oder deine Familie passend sein. Und was für dein Kind passt, gilt nicht automatisch für ein anderes Kind.


Auch Kinder haben andere Ernährungsbedürfnisse als Erwachsene. Ihr Essverhalten wird von biologischen Entwicklungsphasen, Sinneswahrnehmung und emotionaler Regulation beeinflusst (Fildes et al., 2015). Während Erwachsene oft nach gesellschaftlichen Normen essen, folgen Kinder natürlicherweise ihren inneren Signalen – wenn man sie lässt.



Bedürfnisorientierte Ernährung: Ein ganzheitlicher Blick aufs Essen


Bedürfnisorientierte Ernährung bedeutet, verschiedene Faktoren zu berücksichtigen, die die Lebensmittelauswahl und das Essverhalten beeinflussen – von der Körperwahrnehmung über emotionale Bedürfnisse bis hin zu sozialen und kulturellen Aspekten.


Dabei spielen folgende 5 Werte eine zentrale Rolle:


1.Vielfalt und Lebensrealitäten respektieren

Menschen essen unterschiedlich – geprägt durch Herkunft, Kultur, Körper, Neurobiologie, Erfahrungen und Lebensumstände. Bedürfnisorientierte Ernährung erkennt diese Vielfalt an, ohne sie zu bewerten oder zu normieren.


Statt allgemeingültiger Empfehlungen geht es um die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse: Alter, Aktivitätsniveau, gesundheitliche Situation, Geschmacksvorlieben und kultureller Hintergrund bestimmen mit, was für jemanden passt.


Eine bedürfnisorientierte Ernährung erkennt diese sozialen Unterschiede an und sucht nach praktikablen, nicht stigmatisierenden Lösungen.


2. Bedürfnisse und Gefühle ernst nehmen

Neben dem physiologischen Hunger spielen emotionale, soziale und psychologische Bedürfnisse eine zentrale Rolle beim Essen – etwa nach Zugehörigkeit, Autonomie, Regulation oder Sicherheit.


Bedürfnisorientierte Ernährung achtet diese Bedürfnisse als integralen Bestandteil eines gesunden Essverhaltens – bei Kindern wie Erwachsenen. Auch emotionale und soziale Aspekte des Essens haben Platz: Trost, Gemeinschaft, Freude – sie gehören zur Esskultur.


Auch ein entpathologisierender Umgang mit emotionalem Essen hilft, Bedürfnisse zu erkennen und langfristig gesunde Muster zu entwickeln. Studien zeigen, dass emotionales Essen häufig eine verständliche Copingstrategie darstellt (Macht, 2008) und erst dann problematisch wird, wenn keine alternativen Formen der Emotionsregulation zur Verfügung stehen (Svaldi et al., 2010). Eine moralisierende oder stigmatisierende Sichtweise kann kontraproduktiv wirken und die Entwicklung gesunder Muster behindern (Puhl & Suh, 2015).


3. Verbindung zum eigenen Körper stärken

Ein zentrales Element der bedürfnisorientierten Ernährung ist das Erkennen und Respektieren von Hunger- und Sättigungssignalen.

Interozeptive Wahrnehmung – also die Fähigkeit, innere Körpersignale zu spüren – ist zentral für eine gesunde Selbstregulation. Sie betrifft nicht nur Hunger und Sättigung, sondern auch Emotionen und Bedürfnisse.


Kinder haben noch eine sehr feine Wahrnehmung für ihre Körpersignale. Sie essen oft intuitiver als Erwachsene – bis gesellschaftliche Einflüsse, wie Regeln („Iss deinen Teller auf!“) oder moralische Bewertungen von Lebensmitteln, ihre Selbstregulation beeinflussen.


Eltern können Kinder durch Co-Regulation und eine responsive Ernährungserziehung darin unterstützen, ihre Körperwahrnehmung zu erhalten und zu entfalten. Responsive Feeding – also die achtsame Reaktion auf kindliche Hunger- und Sättigungssignale – stärkt nachweislich die Selbstregulation beim Essen und unterstützt die Fähigkeit, auf eigene Bedürfnisse zu hören (Fisher et al., 2002).


Wenn Bezugspersonen nicht moralisieren oder kontrollieren, sondern Kinder in ihrer Wahrnehmung begleiten, fördern sie so nicht nur ein positives Körpergefühl, sondern auch gesunde, selbstbestimmte Essmuster.


4. Genuss und Flexibilität ermöglichen

Essen soll Freude bereiten. Genuss wird oft vernachlässigt, wenn Essen ausschließlich nach Nährwerten beurteilt wird. Die intuitive Ernährung zeigt, dass eine entspannte Haltung gegenüber Lebensmitteln langfristig zu einer besseren Ernährungsweise beiträgt (Tylka & Kroon Van Diest, 2013).

Kinder erleben Essen als sinnliches und spielerisches Erlebnis. Positive Erfahrungen am Familientisch stärken langfristig die Freude an vielfältigen Lebensmitteln (Fildes et al., 2015).


Bedürfnisorientierte Ernährung schützt das Recht auf Genuss, Vielfalt und eigene Entscheidungen – ohne Schuld, Scham oder Moralisierung.

Statt rigider Kontrolle wird Flexibilität gefördert: Ein entspannter Umgang mit Lebensmitteln schützt nachweislich besser vor gestörtem Essverhalten als restriktive Ansätze.


5. Verantwortung und Nachhaltigkeit achtsam integrieren

Bedürfnisorientierte Ernährung kann auch Aspekte wie Umweltbewusstsein, Nachhaltigkeit und ethische Überlegungen (z. B. vegetarische oder vegane Ernährung) integrieren – sofern sie den eigenen Bedürfnissen entsprechen und ohne daraus eine Erwartung an andere abzuleiten.


Nachhaltige Ernährungsweisen, wie sie etwa im Konzept der Planetary Health Diet beschrieben sind (Willett et al., 2019), können auch Kindern früh und kindgerecht vermittelt werden. Entscheidend ist dabei eine Haltung ohne Druck oder Moralisierung. Ein übermäßiger Fokus auf „richtige“ oder „falsche“ Ernährung kann – insbesondere in sensiblen Entwicklungsphasen – zu Spannung, Unsicherheit, Schuld- oder Schamgefühlen oder gestörtem Essverhalten führen (vgl. Birch, Fisher & Davison, 2003).


Dabei ist wichtig, auch den mentalen Druck zu thematisieren, der mit dieser Verantwortung oft einhergeht. Viele Eltern – besonders Mütter – tragen die tägliche Last, zwischen gesunder Ernährung, Nachhaltigkeit, Zeitdruck und kindlichen Bedürfnissen zu jonglieren. Die Ansprüche, alles „richtig“ machen zu müssen, können überwältigend werden.

Bedürfnisorientierte Ernährung steht deshalb auch für mehr Selbstmitgefühl, realistische Erwartungen und eine klare Botschaft: Verantwortung ja – aber nicht auf Kosten deiner psychischen Gesundheit.


Ja, das was wir essen, betrifft nicht nur uns selbst – sondern auch unsere Kinder, unsere Umwelt und unsere Gesellschaft. Bedürfnisorientierte Ernährung sucht hier keine perfekten Lösungen, sondern tragfähige, menschliche Wege.



Die Vorteile der bedürfnisorientierten Ernährung

Die Forschung zeigt, dass eine flexible und achtsame Ernährungsweise viele Vorteile hat:

  • Sie fördert eine gesunde Beziehung zum Essen

  • Sie reduziert den Diätdruck und kann Essstörungen vorbeugen

  • Sie unterstützt eine positive Vorbildfunktion für Kinder

  • Sie führt langfristig zu mehr Energie und Lebensfreude durch ein entspanntes Essverhalten


Die Prinzipien der intuitiven Ernährung harmonieren perfekt mit den Ansätzen und Werten der Bedürfnisorientierten Ernährung.


Bedürfnisorientierte Ernährung ist kein kurzfristiger Trend, sondern ein nachhaltiger Ansatz, um ein langfristig positives Verhältnis zum Essen zu entwickeln.



Literaturverweis

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